IKZ-HAUSTECHNIK, Ausgabe 16/2001, Seite 27 ff
INTERVIEW
Tatort Europa
Axel Gabriel, aus der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen bei der EU, erörterte im Gespräch mit IKZ-HAUSTECHNIK-Chefredakteur Günther Klauke aktuelle Fragen rund um die Entwicklung in Europa. Im Mittelpunkt der Diskussion: Lobbyarbeit, Osterweiterung und aktuelle Themen für die SHK-Branche.
IKZ-HAUSTECHNIK: Herr Gabriel, wie werden in Brüssel Interessen wahrgenommen?
Gabriel: Effektive Lobbyarbeit muss bei den Entscheidern ansetzen. Immer mehr bestimmen europäische Regelungen unser Leben. Es wird daher immer wichtiger, frühzeitig Kontakt zu Beamten der Europäischen Kommission, die Richtlinien und Empfehlungen vorbereiten, und zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments aufzunehmen. Sie erlassen in einigen Bereichen Regelungen, die uns unmittelbar betreffen, ohne dass Bundes- oder Landtag sie noch national umsetzen müssen. In anderen Bereichen haben die Mitgliedstaaten zwar noch eigenen Gestaltungsspielraum, müssen aber die Brüsseler Vorgaben beachten. Lobbyarbeit kann sich heute nicht allein auf Bundestag und Landtage beschränken. Sie bleibt gleichwohl wichtig, weil dort die deutsche Meinungsbildung zu europäischen Themen organisiert wird.
Je früher Informationsgespräche geführt und Positionspapiere "platziert" werden, umso erfolgreicher ist die Arbeit. Präsenz vor Ort und persönliche Kontakte in Brüssel sind durch kein noch so langes Telefonat und durch keine noch so ausführliche Internetrecherche zu ersetzen.
IKZ-HAUSTECHNIK: Welche aktuellen Themen werden derzeit in der EU behandelt?
Gabriel: Hauptthemen sind die Erweiterung der EU, die Reform der Institutionen, die Neuverteilung der Aufgaben zwischen EU, Mitgliedstaaten und Regionen, d.h. in Deutschland, den Bundesländern, die Grundrechtscharta, eine europäische Verfassung. Kurz: es wird über die Größe, die Integration und die politische Zukunft der EU diskutiert.
IKZ-HAUSTECHNIK: Was ist nach Ihrer Meinung von der Osterweiterung der EU für den Mittelstand zu erwarten?
Gabriel: Die EU steht vor der größten Erweiterung ihrer Geschichte. Sie wird in den nächsten zehn Jahren von 15 auf 27 Mitglieder erweitert. Potenzielle Beitrittsländer sind: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Zypern, Rumänien und Bulgarien. Die ersten Beitritte werden für 2004/5 erwartet. In wie vielen Schritten die Beitritte vollzogen werden, ist noch offen. Sicher werden aber Bulgarien und Rumänien zuletzt beitreten. Die Türkei hat einen Sonderstatus. Die EU steht also faktisch vor einer Verdoppelung ihrer Mitglieder, vor einem Zuwachs der Bevölkerung von 375 Mill. auf 481 Mill. (28%) und einem Zuwachs des europäischen Bruttosozialprodukts von 7.7 Billionen Euro auf 8.6 Billionen Euro (ca. 12%). Die Chancen dieser Entwicklung liegen in der friedens- und wohlstandsstiftenden Funktion Europas: Der 2. Weltkrieg, der zur Spaltung Europas geführt hat, wird nach der Wende 1990 nun zum 2. Mal und damit endgültig beendet. Außerdem hat der Binnenmarkt Europa zu einer Wohlstandszone gemacht. Genau hieran knüpfen die Ängste an: Kann die verdoppelte EU ihren Mitgliedern den gleichen Wohlstand bieten wie bisher, müssen nicht einige Staaten mehr gemeinsam tun als andere, brauchen wir ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten?
Spanien bangt um die Förderung aus den Struktur- und Kohäsionsfonds und will deshalb den Nizza-Vertrag ablehnen, Frankreich um die Förderung für die Landwirtschaft, Irland um die Regionalförderung, weshalb sie den Nizza-Vertrag in einem Referendum erst einmal abgelehnt hat.
Deutschland und Österreich befürchten Lohn- und Arbeitsplatzkonkurrenz durch Zuwanderung, beide Staaten befürworten daher lange Übergangsfristen bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU. Es wird befürchtet, dass der Konkurrenzdruck durch ausländische Arbeitnehmer in Deutschland zu groß wird. Für Deutschland werden 60%, für Österreich 10% der Zuwanderung erwartet. Die EU hat bei sofortiger und voller Freizügigkeit für die nächsten 30 Jahre 2 Mill. Zuwanderer für Deutschland und 3 Mill. europaweit errechnet, wenn 10 Länder beitreten. Hiervon sind 1/3 Arbeitnehmer und 2/3 Familienangehörige.
Diese Entwicklung sollte man nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstehen. Die Zahl der Auszubildenden wird in den nächsten Jahren dramatisch zurückgehen, hier könnten traditionell gut ausgebildete junge Arbeitskräfte aus Osteuropa hilfreich sein. Außerdem braucht Deutschland Zuwanderung, was mittlerweile von allen Parteien und der Wirtschaft anerkannt wird. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung Deutschlands in den nächsten 50 Jahren von 82 Mill. auf 59 Mill. Einwohner sinken.
Zusammenwachsendes Europa |
IKZ-HAUSTECHNIK: Welche für unsere Branche aktuellen Themen werden gerade in Brüssel behandelt?
Gabriel: 1. Die zunehmende Integration und Erweiterung der EU macht es erforderlich, dass Handwerker auch überregional, d.h. in Grenzregionen auch grenzüberschreitend, nach Aufträgen suchen müssen.
2. Die Mehrwertsteuer für Handwerksleistungen könnte gesenkt werden, um den Anteil von Schwarzarbeit zurückzudrängen. In Frankreich ist das probeweise geschehen.
3. Die europäische Normierungsorganisation CEN, in der die nationalen Normungsinstitute organisiert sind, hat ein EU Zeichen in Form eines Schlüssels entwickelt, das auf die Produkte aufgebracht wird und eine Sicherheits- und Qualitätsgarantie enthält. In Deutschland wird es also neben dem Qualitätsstandard des Deutschen Instituts für Normung (DIN), das CE-Zeichen und das CE-Logo in Gestalt eines Schlüssels (keymark) geben. Die Zeichen sind von der europäischen Normungsorganisation CEN entwickelt worden.
Das CE-Zeichen bescheinigt, dass ein Produkt die grundlegenden EU-Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit erfüllt. Adressat sind nicht die Verbraucher, sondern die Gewerbeaufsicht und der Zoll, um die Kontrolle des Warenverkehrs im europäischen Binnenmarkt zu erleichtern. Der Handel mit diesen Produkten darf nicht behindert werden. Es wird von den Unternehmen selbst vergeben (Selbstzertifizierung).
Das CE-Logo gibt es seit 1996, hat sich aber nicht durchsetzen können. Nun sollen neue Kontroll- und Vergaberichtlinien und eine enge Zusammenarbeit mit nationalen Normungsorganisationen den Durchbruch bringen. Es richtet sich an den Verbraucher und soll die Übereinstimmung eines Produkts mit europäisch normierten Sicherheits- und Qualitätsanforderungen garantieren. Die Bedeutung geht also deutlich über das CE-Zeichen hinaus. Ob die Voraussetzungen für die Erteilung vorliegen, wird von einer unabhängigen Stelle geprüft und dann von den nationalen Normungsorganisationen verliehen. Zur Vertrauensbildung wird es zudem nur zusammen mit bereits bewährten Zeichen auf dem Produkt angebracht, in Deutschland also mit dem DIN-Zeichen. Entsprechend gekennzeichnete Produkte entsprechen also einheitlichen europäischen Qualitätskriterien. So sehr das zu begrüßen ist, langfristig besteht die Gefahr, dass strenge deutsche DIN-Vorschriften durch möglicherweise geringere europäische Anforderungen ersetzt werden.
4. Die EU hat sich den Abbau der Arbeitslosigkeit innerhalb von zehn Jahren zum Ziel gesetzt. Qualifizierung, lebenslanges Lernen sind Mittel hierfür. Die Bildungseinrichtungen sollen engere Kontakte zur Wirtschaft knüpfen. Die dualen beruflichen und universitären Einrichtungen sollen den Theorie- und Praxistransfer organisieren, örtliche Bündnisse für Arbeit sollen das Bewusstsein hierfür stärken. Hierfür stehen Finanzierungsmittel z.B. im Europäischen Sozialfonds, im Mehrjahresprogramm für KMU, in den Strukturfonds, in den Bildungsprogrammen LEONARDO und SOKRATES zur Verfügung.
5. Vergaberichtlinien der EU
Hier gibt es großen Handlungsbedarf: Die Liberalisierung der europäischen Märkte und die Osterweiterung führen zu Billig-Lohn-Konkurrenz, zu Lohndumping. Um dem entgegenzuwirken, sollen öffentliche Aufträge nur unter der Bedingung der Tariftreue vergeben werden. Vier Bundesländer haben eines bzw. bereiten es vor: Bayern und Sachsen-Anhalt, Berlins Vergabegesetz wird gerade vom Bundesverfassungsgericht überprüft, NRW hat einen Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht, das Bundeswirtschaftsministerium hat eine Arbeitsgruppe hierzu eingesetzt. Gerade Angebote ausländischer Anbieter im Rahmen europaweiter Ausschreibungen führen zu Niedrig-Lohn-Angeboten und Wettbewerbsverzerrungen. Andere argumentieren: Tariftreue verhindere Wettbewerb, verteuere Aufträge und schaffe Anreize zu Schwarzarbeit.
IKZ-HAUSTECHNIK: Welche Fördermöglichkeiten aus EU- Mitteln gibt es für das Handwerk und die kleineren und mittleren Unternehmen (KMU)?
Gabriel: Es gibt ca. 160 EU-Förderprogramme, die durch zahlreiche Gemeinschaftsinitiativen und -aktionslinien sowie durch nationale Programme ergänzt werden. Seit Juni 2000 sind die Fördermöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) deutlich verbessert worden. Die Staats- und Regierungschefs haben in Feira die "Europäische Charta für Kleinunternehmen" verabschiedet. Dort werden die KMU als die Haupttriebfeder für Innovation, Beschäftigung, soziale und lokale Integration in Europa bezeichnet. Die Kommission will den Innovations- und Unternehmergeist stärken, rechtliche, steuerliche und administrative Rahmenbedingungen schaffen, die die unternehmerische Tätigkeit fördert, den Zugang zur besten Forschung und Technologie erleichtern und den Zugang zu Finanzmitteln erleichtern. Hieraus werden zehn Aktionslinien abgeleitet, die sich beziehen auf eine bessere Ausbildung zu Unternehmergeist auf allen Bildungsebenen, vereinfachtes Anmeldungsverfahren bei Neugründung, Überprüfung des Insolvenz- und Wettbewerbsrechts auf Bedürfnisse der KMU, neue Anforderungen an ein KMU-gerechtes Steuer- und Finanzsystem, Stärkung des technologischen Potenzials, elektronischen Handel und eine verbesserte Interessenwahrnehmung auf nationaler und europäischer Ebene.
Auf der Grundlage dieser Unternehmenscharta hat
- der Rat im Dezember 2000 ein "Mehrjahresprogramm für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für KMU für 2001-2005" verabschiedet, das mit 450 Mill. Euro für 5 Jahre ausgestattet ist, die Kommission im März 2001 die Initiative "Go digital
- den KMU den Weg um elektronischen Handel ebenen" veröffentlicht.
Zu nennen sind weiter die Strukturfonds, insbesondere der Europäische Sozialfonds, das 5. Forschungsrahmenprogramm, Bildungsprogramme Sokrates und Leonardo für die Aus- und Fortbildung sowie Auslandspraktika, mehrere Programme im Umwelt und Energiebereich. Einem verbreiteten Eindruck möchte ich entgegenwirken, dass nämlich in Brüssel das Geld auf der Straße liegt. Die EU Fördermittel sind häufig nur Anteilsfinanzierungen und/oder verlangen einen "europäischen Mehrwert", d.h. z.B. Beteiligung mehrerer Partner aus verschiedenen Mitgliedstaaten. Gleichwohl lohnt es sich, den "Förderdschungel" zu durchforsten.
IKZ-HAUSTECHNIK: Was sind eigentlich "kleinere und mittlere Unternehmen"?
Gabriel: Dies ist in einer Empfehlung der Kommission von 1997 definiert. Danach haben
- kleine Unternehmen weniger als 50 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von maximal 7 Mill. Euro bzw. eine Jahresbilanzsumme von höchstens 5 Mill. Euro,
- mittlere Unternehmen weniger als 250 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von maximal 40 Mill. Euro bzw. eine Jahresbilanzsumme von höchstens 27 Mill. Euro, bei beiden dürfen nicht mehr als 25% des Kapitals oder der Stimmanteile im Besitz von einem oder von mehreren Unternehmen gemeinsam stehen, die die Voraussetzungen der KMU nicht erfüllen.
- Kleinstunternehmen weniger als 10 Beschäftigte. Voraussetzungen beim Jahresumsatz und bei der Unabhängigkeit gibt es nicht.
In der EU gibt es 18 Mio. KMU, das sind 99% aller Unternehmen.
IKZ-HAUSTECHNIK: Welchen Anteil am Haushalt der EU haben die Fördermittel?
Gabriel: Ca. 85%. Der Haushalt 2001 beläuft sich auf 93 Milliarden Euro. Hiervon werden die Landwirtschaft mit 41 Milliarden Euro, strukturschwache Gebiete (Strukturfonds) und verkehrsinfrastrukturschwache Gebiete (Kohäsionsfonds) mit 33 Milliarden Euro, die Forschung mit 3.6 Milliarden Euro, der Verkehr mit 700 Millionen Euro, die Bildung mit 480 Millionen Euro, die Umwelt mit 160 Millionen Euro jährlich gefördert. Außerdem gibt es spezielle Förderprogramme für die Erweiterung der EU. 80% der Mittel werden von den Mitgliedstaaten verwaltet und bewilligt.
IKZ-HAUSTECHNIK: Wie finanziert sich die EU?
Gabriel: Die EU hat keine Finanzhoheit, d.h. sie erhebt keine eigenen Steuern und Abgaben. Sie wird von den Mitgliedstaaten finanziert, sog. Eigenmittelsystem. Jedes Land zahlt z.Z. 1,06% ihres BSP in den europäischen Haushalt ein, die Höchstgrenze ist auf 1,27% festgelegt. Deutschland zahlt danach 43.34 Mrd. DM.
Eigenmittel sind:
- Mehrwertsteueranteil, jedes Land zahlt 1% ihrer Mehrwertsteuereinnahmen an die EU, das sind 35% der Eigenmittel,
- Bruttosozialproduktanteil, jedes Land zahlt 1,06% ihres BSP an die EU, das sind 50% der Eigenmittel,
- Zölle und Agrarabschöpfungen, 14% der Eigenmittel,
- Anleihen und Darlehen der EIB, Mittel aus dem Europäischen Entwicklungsfonds.
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