IKZ-HAUSTECHNIK, Ausgabe 16/1999, Seite 27 ff.
SANITÄR-/HEIZUNGSTECHNIK
Zukunftsperspektiven der SHK-Branche
Chancen - Risiken - Rahmenbedingungen (Teil 1)
Prof. Dr.-Ing. Helmut Burger
Was die Zukunft bringen und wie sie aussehen wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Das einzig Stetige ist der Wandel. Wenn man sich bemüht, den Wandel zu beeinflussen, bleibt zwar die Zukunft weiterhin nicht bestimmbar, aber es kann ein Beitrag geleistet werden, diese mitzugestalten.
Neue Verordnungen und Richtlinien, wie die Energiesparverordnung 2000 und die zugehörige Vornorm 4701 T10 bzw. weitere europäische Begleitnormen, werden die Geschehnisse in der SHK-Branche und aller am Bau beteiligten Gewerke auf Jahre hinaus prägen und bestimmen. Dabei ist der energetische Handlungsrahmen über politische, ökonomische, ökologische und soziale Einflüsse mit wachsender Komplexität und zunehmendem Wettbewerbsdruck gespannt.
Zukunft und die Entwicklung von Szenarien
Zur Entwicklung von Zukunftsszenarien müssen daher die verschiedensten Facetten der Untersuchungsfelder strukturiert und möglichst vollständig abgebildet werden. Es bedarf einer Sammlung aller Einflußfaktoren. Es müssen verschiedene Entwicklungspfade und Zukunftsbilder nebeneinander gestellt werden, die ihrerseits in sich konsistent sind. Alle Szenarien müssen als möglich angesehen werden können und innerhalb eines Handlungsrahmens die Abschätzung ihrer Eintrittwahrscheinlichkeit erlauben. Störereignisse müssen identifiziert werden, um auch ggf. "robuste" Strategien entwickeln zu können.
Bild 1: Entwicklung von Zukunftsperspektiven. |
Daraus leiten sich Schritte und Handlungsoptionen ab, um ein "Wunschszenario" mit den Chancen zu stabilisieren, und um ein "Vermeidungsszenario" mit den Risiken in seiner Eintrittswahrscheinlichkeit zu destabilisieren (Bild 1).
Methodische Beurteilung von Szenarien
Eine Methode zur Bearbeitung von Szenarien wird mit ihren einzelnen Schritten nachfolgend dargestellt (siehe Kasten).
Zukunftsperspektiven SHK-Branche | Strukturierung des Untersuchungsfeldes | |||
Externe/Interne Einflüsse | Einflußbereiche und ihre Wirkungsbeziehung | Prozesse, Umfeld | ||
Zukunftsprojektionen | Projektionen | — möglichst komplette Erfassung | ||
Annahmenbildung | Konsistente Bündel | z.B. unter dem Gesichtspunkt einer (Haupt)prämisse und eines oder mehrerer Deskriptoren | ||
Störereignisse | Zukunftsbilder entwickeln Eintrittswahrscheinlichkeit | Wunschszenarien / Chancen bzw. Vermeidungsszenarien / Risiken | ||
Auswirkungen abschätzen | ||||
Handlungsoptionen | Maßnahmenplanung |
Aus den externen und internen Bereichen werden die prozeßorientierten und umfeldrelevanten Einflußfaktoren zusammengestellt (Bild 2). Diese Faktoren werden hinsichtlich ihrer möglichen Ausprägungen in die Zukunft untersucht. Stellt sich nur eine bestimmte Ausprägung ein, wird die Einflußgröße zur "Prämisse". Bei mehreren denkbaren Ausprägungen werden die Einflußgrößen zu Deskriptoren.
Bild 2: Einflußbereiche SHK-Branche (Beispiele). |
Prämissen in der SHK-Branche
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können sich für die SHK-Branche folgende Prämissen mit ihren Implikationen ergeben (siehe Kasten).
Prämissen | Implikationen |
1. Leitbild der Nachhaltigkeit wird bestimmend | — Ressourcenschonung |
2. Die Bedeutung der Mensch — Wohngebäude — Schnittstelle nimmt weiter zu | Behaglichkeit, Komfort, Flexibilität, Individualität, Wellness |
3. Demographische Entwicklung ist zu beachten Altersstruktur, Single-Haushalte nehmen zu | Mehrnutzen für große Gruppen |
4. Der technische Fortschritt beschleunigt sich weiter | — Integration zur Systemtechnik |
5. Der "Kostendruck" in der Branche und den Unternehmen steigt weiter an | — Kostensenkung (z.B. in Entwicklung-, Produktionsbereichen administrativen Bereichen) oder |
6. Der Wettbewerb in Deutschland, europaweit und weltweit nimmt zu | — Qualitätsstandard |
7. Informationsaustausch und Technikintegration nehmen weiter zu | — Vernetzungswerke |
8. Die Bedeutung von Dienstleistungen nimmt zu | — Contracting |
9. Europäische Gesetzgebungen sowie europäische technische Regelsetzungen werden Regelfall | — Präsenz in Brüssel |
10. Regeln und Richtlinien als unentbehrliche Basis des Marktzugangs | Verordnungen, Gesetze, Regelwerke, Normung |
11. Verbraucherinformation gewinnt an Bedeutung | — Labelling |
12. Wärmeschutz nimmt zu | — Passiver und aktiver Wärmeschutz |
13. Wirtschaftlichkeitsgebot | — Nutzen, Lebensdauer |
14. Liberalisierung Strom und Wärmemarkt | — Revolutionäre Wandelung des Marktes vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt |
Eine Gewichtung der einzelnen Prämissen hinsichtlich ihrer Zukunftspotentiale ist durchaus möglich. Entscheidende Potentiale sind der unter 1. ausgewiesenen "Nachhaltigen Entwicklung" mit den Implikatoren Ressourcenschonung, CO2-Minderung, Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien zuzuordnen. Bei weiterem Herunterbrechen gehört in den Bereich der Ressourcenschonung z.B. auch die Kreislaufwirtschaft.
Ein weiteres enormes Potential ist in 14. "Liberalisierung der Strom- und Wärmemärkte" mit einer als revolutionär zu bezeichnenden Marktveränderung zu sehen. Zur Entwicklung der Zukunftsbilder wird im folgenden das von der SHK-Branche unmittelbar beeinflußbare Strukturfeld mit der Prämisse 10. "Regeln und Richtlinien als unentbehrliche Basis des Marktzuganges" herangezogen.
Deskriptoren
Als Deskriptoren und ihre möglichen Ausprägungen können beispielsweise identifiziert werden (siehe Kasten).
Deskriptoren | Ausprägungen | |
1. Qualität und Aktualität von Techn. Regeln, Verordnungen usw. | SHK-Branche liefert Input | |
2. Schattenwirtschaft | — wird durch Anzeige abgebaut | |
3. Fördertatbestände des Staates und privater Unternehmen | — werden verläßlich und verstetigt | |
4. Ausbildungsstand der SHK Branche | — steigt an | |
5. Niedrigenergie Standard | — Technische Gebäudeausrüstung steigt in ihrer Bedeutung | |
6. Passivhaus-Standard | — Anforderungen an die Technische | |
7. Aktivhaus Standard (energetische Selbstversorgung) | — Technische Gebäudeausrüstung nimmt zu | |
8. Intelligentes Haus | — unter Berücksichtigung demographischer |
Denkbare Störfälle
Beispiele von möglichen Störfällen sind (siehe Kasten):
Falls sich der Deskriptor Nr. 4 "Ausbildungsstand in der SHK-Branche" nur abfallend ausprägen sollte, wäre er praktisch auch als Störfall einzuordnen.
Störfälle | Implikationen |
1. CO2 Äquivalente | — politischer und gesellschaftlicher Energiekonsens fehlt |
2. Energiekrise | — Explosion der Energiepreise |
3. Persönlichkeit "Mensch" | — Individuelles Verhalten und subjektive Empfindungen |
4. Ökobilanzen, kumulierter Energieaufwand (KEA) | — Rahmenbedingungen zur Erfassung nicht einheitlich |
Wunschszenario auf der Grundlage von Verordnungen und Technischen Richtlinien
Mit der neuen Energiesparverordnung 2000 werden, wie bereits erwähnt, die Geschicke der SHK-Branche auf Jahre hinaus geprägt. Mit der Prämisse Nr. 10 und dem Deskriptor Nr. 1 wurde daher hinsichtlich der Chancen ein Wunschszenario entwickelt: "Marktwirtschaftliche Verordnungen und technische Regeln unterstützen die Entwicklung in der SHK-Branche."
Die Merkmale sind:
- Der grundsätzliche Nutzen der Energieeinsparverordnung und ihrer technischen Richtlinien und Normung steht für die SHK-Branche außer Frage. Auch zielsetzende Anforderungen seitens Politik und Gesellschaft an die Regelwerke sind akzeptiert.
- Die interessierten Kreise aus der SHK-Branche steigern in den regelsetzenden Organisationen ihre Effizienz und ihren Input.
- Der staatliche Einfluß bleibt reduziert auf die Festlegung von Zielen und Harmonisierungsbestrebungen.
- In einem Klima wechselseitiger engagierter Beeinflussung unterstützt die technische Regelung eine prosperierende SHK-Branche.
- Die techn. Regeln werden durch Projektteams aus interessierten Kreisen mit konkreten Zielvorgaben erstellt, die Bearbeitungszeiten sind planbar und entsprechen den Marktbedürfnissen.
- Innovationen werden gefördert und Entwicklungen dank der effizienten Normungsarbeit und des Engagements der SHK-Branche schnell in vermarktbare Produkte, Haussystemtechnik und Dienstleistungen umgesetzt.
- Die Gremien haben auch die Aufgabe, die nationalen Ergebnisse in einem demokratisch legitimierten Abstimmungsprozeß nach Europa zu transferieren.
- Für Produkte, Systeme und Leistungen in innovativen Märkten mit hoher technologischer Änderungsgeschwindigkeit wird ein schneller und kostengünstiger Prozeß zur Normenerarbeitung entwickelt (PAS, CWA usw.).
- Die Normen beinhalten frei wählbare Qualitätsstufen, z.B. Effizienzklassen, Emissionsklassen usw.
Vermeidungsszenario bei Verordnungen und Technischen Richtlinien
Dem Wunschszenario steht ein Vermeidungsszenario hinsichtlich der Risiken bei gegenläufiger Deskriptorentendenz gegenüber: "Staatliche Lenkung der Normung in der SHK-Branche".
Die Merkmale sind:
- Die Beteiligung der SHK-Branche an den Normungsvorhaben läßt weiter nach, die Kommunikation im Rahmen der Normungsgremien, national und europäisch, wird schwächer.
- Die Problematik langsamer, qualitativ unzureichender Normung führt zum Ausstieg der SHK-Branche aus der Normung.
- Der Staat schreitet ein, um das entstehende Vakuum zu füllen. Ein Dickicht aus technischen Verordnungen, Richtlinien, Gesetzen und Vorschriften ist die Folge: Er diktiert die anzuwendenden Technologien und Ausführungen, siehe Entwurf Energieeinsparverordnung mit entsprechenden Ansätzen (veralteter EU-Standardkessel, 0,7-Faktor mit physikalischer Schieflage usw.).
- Normungsorganisationen entwickeln sich zum politikbestimmten Ausführungsorgan des Staates.
- Dadurch werden die Verfahren noch langwieriger und die SHK-Branche zieht sich noch mehr zurück.
- Normen und technische Richtlinien werden zu Behördendokumenten, langsam und ohne marktwirtschaftliche Relevanz.
- Finanzierungsfragen der Normung stehen gegenüber der Bearbeitung im Vordergrund.
- Die Prozesse in der SHK-Branche werden nicht mehr von Innovationen geprägt.
- Andere aktive Branchen und andere interessierte Kreise stülpen der SHK-Branche ihre Marktinteressen über.
- Die europäischen SHK-Richtlinien werden von den interessierten Kreisen im Ausland auch für Deutschland bestimmt.
- Die KMU verlagern ihre Tätigkeiten zunehmend ins Ausland.
- Großkonzerne entwickeln ihre eigenen Spielregeln als de facto - Normen sowohl auf dem technischen als auch auf dem Dienstleistungssektor.
- Zertifizierungen werden notwendig, die Kosten steigen.
Eintrittwahrscheinlichkeit der Szenarien
Die Einschätzung des Verfassers zur Eintrittswahrscheinlichkeit der Szenarien ist in Bild 3 fixiert. Diese kritische Einschätzung als Momentaufnahme resultiert aus seiner Tätigkeit als Vorsitzender des NHRS im DIN. Danach muß das Vermeidungsrisiko leider als Akzentuierung bereits teilweiser bestehender Verhältnisse betrachtet werden.
Bild 3: Eintrittswahrscheinlichkeit nach Einschätzung des Verfassers. |
Die Einschätzung von Technischen Referenten des ZVSHK und SHK Landesfachverbänden wurde mit folgendem Ergebnis ermittelt (siehe Bild 4).
Aufgrund dieser Abschätzung ist es kurz vor zwölf. Die energierelevanten Rahmenbedingungen können sich kaum zu Chancen entwickeln, wenn von der SHK-Branche keine Aktivitäten im Sinne des Wunschszenarios ergriffen werden.
Dem sich in einigen Publikationen [1,2] bereits abzeichnenden, warnenden und negativen Bild kann noch erfolgreich begegnet werden. Auf einige Handlungsoptionen wird im Teil 2 eingegangen.
Zusammenfassung
Zur Entwicklung von Zukunftsbildern in der SHK-Branche ist das Umfeld analysiert worden. Die ermittelten Einflußfaktoren wurden in Prämissen mit eindeutiger Ausprägung und Deskriptoren mit verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten differenziert.
Auf der Basis der als Prämisse definierten Technischen Regelsetzungen in Verbindung mit der aktuell anstehenden, die Branche künftig prägenden neuen Energiesparverordnung wurden zwei in sich konsistente, aber markant verschiedene Szenarien entwickelt und ihre Merkmale beschrieben.
Bild 4: Eintrittswahrscheinlichkeit nach Einschätzung aus SHK-Verbänden. |
Einem Wunschszenario mit seinen Chancen für die SHK-Branche: "Marktwirtschaftliche Verordnungen und technische Regeln unterstützen die Entwicklung in der SHK-Branche", steht ein Vermeidungsszenario mit seinen Risiken für die SHK-Branche: "Staatliche Lenkung der Normung in der SHK-Branche" gegenüber.
In dieser akzentuierten Form bieten diese Szenarien eine Grundlage für Strategie und Handlungsoptionen zur Vermeidung des unerwünschten Szenarios bzw. zur Förderung des Wunschszenarios.
Mit der Hilfe der Prämissen und Deskriptoren können weitere Zukunftsbilder entwickelt werden. Von großem Interesse ist beispielsweise ein Szenario zwischen den Energiestandards (Niedrigenergie-, Passiv- und Aktivhaus) und der Bedeutung der jeweiligen Technischen Gebäudeausrüstung.
(Fortsetzung folgt)
L i t e r a t u r :
[1] Wippich, H.: In "Diskussion - Heizungsbau im Jahre 2000 und danach". SHT 3/99
[2] Schulte, H.-H.: "Der offene Brief zum politischen Problem der SHK-Branche". Cci 6/99
L i t e r a t u r h i n w e i s :
Die Ableitung der Szenarien erfolgte auf der Basis einer gemeinsamen Forschungsarbeit im Hause Daimler-Benz AG. Unter Federführung von Herrn Dr. Veit Ghiladi wurden zum Thema "Normung 2010" von einem 12-köpfigen Expertenteam verschiedene Szenarien erarbeitet. Die Arbeit "Normung 2010" kann angefordert werden bei Daimler-Benz AG, Intellectual Property Managements, Standardisierung, 70546 Stuttgart, August 1998.
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