125 Jahre IKZ-HAUSTECHNIK, Ausgabe 18/1997, Seite 94 f.
UNTERNEHMENSFÜHRUNG
Wo steht die Führungskraft?
Horst Peagitsch
In den Betrieben und Verwaltungen werden exakt umrissene Ziele immer wieder durch Gefühle, Machtkämpfe und Intrigen gefährdet. In diesem Zusammenhang wird häufig erwähnt, daß Führungskräfte etwa ein Drittel ihrer gesamten Arbeitskraft darauf verwenden müßten, gegen sie gerichtete Intrigenspiele abzuwehren.
Eine gleichermaßen schizophrene Entwicklung zeigt sich auch, wenn man vergleicht, unter welchen Umständen heute, im Gegensatz zu früheren Zeiten, Arbeitsleistungen insgesamt im Betrieb erbracht werden. Die äußeren Umstände wurden stark verbessert. Es gibt großartige Errungenschaften der Arbeitswissenschaft: körpergerechtes Arbeitsgerät, an körperliche Bedürfnisse angepaßte Arbeitszeit- und Pausenregelungen, vielfältige Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen usw. Nahezu unverändert blieben jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen: das Gefüge von "oben" und "unten"; wenige sind oben, viele sind unten.
Erkenntnisse über Gesetze des menschlichen Zusammenlebens, wie sie die Wissenschaft teilweise schon vorweisen kann, sind in den Betrieben immer noch wenig gefragt. Prestigekämpfe, Demütigungen, Machtkämpfe und nicht zuletzt Angst vor den Vorgesetzten und Stellenverlust sind an der Tagesordnung.
Dem technischen Fortschritt muß der soziale Fortschritt folgen
Vorher aber gilt es, sich von Vorurteilen und Privilegien zu lösen. Die Machtfrage zwischen Arbeitskraft auf der einen und Produktivvermögen auf der anderen Seite muß weiter und umfassender diskutiert werden als bisher.
Wo steht in diesem Spannungsfeld der verschiedenartigsten und nicht immer rationalen Bestrebungen die Führungskraft? Sie steht in der Mitte, in der Mittlerstellung zwischen oben und unten. Sie übt - teils mehr, teils weniger - sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerfunktionen aus. Die Gefahr des Zerriebenwerdens dabei ist groß.
Das Betriebsverfassungsgesetz, Ergebnis rationaler Bemühungen um eine Verbesserung der Rechtsgrundlage für die betriebliche Zusammenarbeit, wird beispielsweise manchmal schon wieder dadurch zunichte gemacht, daß man befähigte Leute, die für die Wahl zum Betriebsrat im Gespräch sind, eilig zu leitenden Angestellten macht und damit ihre Wahl vereitelt.
Oder ein anderes Beispiel: Das Betriebsverfassungsgesetz sieht unter anderem vor, daß bei jeder ordentlichen Kündigung der Betriebsrat gehört werden muß. Bei der Diskussion über dieses Gesetz kam von Arbeitgeberseite gelegentlich der zynische Rat, dann doch besser immer fristlos zu kündigen, um die Anhörung des Betriebsrats zu vermeiden.
Hier zeigt sich eine Kurzsichtigkeit im sozialen Bereich, die - wäre sie allgemein - verhängnisvoll werden könnte. Es scheint so, als hätten wir, fixiert auf den spektakulären technischen und globalen Fortschritt, den Menschen aus den Augen verloren.
Die Führungskraft beherrscht heute ihre Sachaufgaben im Normalfall sehr gut. Sie bemüht sich, bei allen Neuerungen auf dem laufenden zu bleiben. Für die Wahrnehmung ihrer Führungsaufgaben jedoch genügt ihr meist eine hausgemacht Psychologie, mit der die wirkliche Situation jedoch in den seltensten Fällen wirkungsvoll beeinflußt werden kann.
Vorgesetztenverhalten und psychosomatische Krankheiten
Aber es gibt Symptome, die uns mahnen sollten. Psychosomatische Krankheiten, Krankheiten des Körpers also, die eine seelische Ursache haben, mehren sich. Auch seelische Erkrankungen - die Modeworte Frustration, Depression und Neurose kennt jeder - wachsen an. Dabei müssen wir annehmen, daß bei letzteren sowieso nur die Spitze des Eisberges bekannt ist.
Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Mechanisierung, Rationalisierung und Automatisierung führen zu einem Rückgang körperlicher Beanspruchung. Die menschliche Muskelkraft wird nur noch zu etwa 15 Prozent beansprucht, in manchen Fällen noch darunter. Dagegen ist die psychische Beanspruchung der Menschen erheblich gestiegen: Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen stehen im Vordergrund vieler Tätigkeiten. Unzählige Reize strömen Tag für Tag auf den Menschen am Arbeitsplatz ein. Es tritt der Zustand ein, der mit "Reizüberflutung" bezeichnet wird.
Die Folgen: Herzstörungen bis zu Herzinfarkt, Bluthochdruck, Magengeschwüre und Schlafstörungen mit später auftretenden nervösen Erschöpfungszuständen.
Sind das alles unvermeidliche Opfer an den Fortschritt? Die Wissenschaft befaßt sich schon seit einiger Zeit mit dieser Frage. Sie gelangt zu dem Ergebnis, daß noch lange nicht alles getan wurde, was auf diesem Gebiet getan werden könnte. Unter den Ursachen, die psychosomatische Krankheiten auslösen, spielt das Verhalten von betrieblichen Vorgesetzten eine entscheidende Rolle. Häufig ist dieses Verhalten falsch, es verletzt und trifft den Mitarbeiter.
Dann entstehen Streß (Überbeanspruchung) und seelische Spannungen. Die Zahl der Krankmeldungen nimmt zu. Der einzelne nimmt sich seine "Krankheit". Um die Krankheitsrate zu senken, ist es also erforderlich, daß Vorgesetzte ihr Verhalten überprüfen und ändern.
Hierarchie im Betrieb
Unternehmen sind meistens nach wie vor hierarchisch organisiert: Die Anweisungen ergehen von oben nach unten. Der Vorgesetzte befiehlt zwar nicht mehr im Kasernenhofton, doch auch jetzt noch müssen die Untergebenen gehorchen und die Aufträge ausführen. Gehorsam wird erwartet und ist selbstverständlich. Die Arbeitsdisziplin ist tief verwurzelt.
Die Betriebspyramide. |
Die Vorgesetzten organisieren den Produktionsablauf und die Arbeitsbedingungen. Entscheidungen und ihre Vermittlung durch den Vorgesetzten werden nicht in Frage gestellt. Den "Sachzwängen" der Organisation unterwirft man sich im Interesse eines reibungslosen Ablaufs. Erklärungen und Begründungen werden in der Regel nicht gegeben, nachgefragt wird aber auch nicht.
Die Arbeitswelt ist ein Bereich unserer Gesellschaft, in dem die Anordnungsbefugnis des Vorgesetzten kritiklos hingenommen wird - trotz der Demokratisierung in den anderen gesellschaftlichen Bereichen. Im Betrieb ist der "mündige Staatsbürger" der Herrschaft des Arbeitgebers, beziehungsweise der Vorgesetzten unterworfen. Häufig wird die Macht auch in bezug auf die heutige schwierige Arbeitsmarktsituation ausgenutzt.
Arbeitsrechtlich hat der Mitarbeiter eine Gehilfenstellung, produktionstechnisch eine Objektstellung. Die Grundrechte der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 1 und 2 Grundgesetz) sind aufgrund dieser Abhängigkeit und Fremdbestimmung im Arbeitsprozeß in vielen Fällen gefährdet.
Manche Vorgesetzte sehen zwar diese Gefahr, doch sie argumentieren: Mitarbeiter lassen sich nur durch straffe Führung lenken; bisher ist man damit ganz gut gefahren. Und versucht man, es anders zu machen, sind vielfach Fehlschläge zu beobachten. Es zeigt sich, daß der Mensch doch nur unter Druck arbeitet. Zwang bewirkt mehr als Freiheit und Selbstbestimmung.
Was den Führungskräften als wirksam erscheint, stellt sich - vom Sockel der Pyramide aus betrachtet - als Verletzung der Menschenwürde und Machtmißbrauch dar. Der Begriff "Mitarbeiter" bekommt so für die Arbeiter und einfachen Angestellten einen ironischen Beiklang; ihre Vorgesetzten führen ihn als Schlagwort unentwegt im Munde - ohne Bewußtsein für seine soziale Bedeutung. Sie sprechen von den "lieben Mitarbeitern", meinen jedoch die angepaßten Untertanen.
[Zurück] [Übersicht] [www.ikz.de]